Weltbürger*innen und große Transformation
Prof. Dr. Gregor Lang-Wojtasik
Es ist bemerkenswert, mit welcher Vehemenz derzeit eine Re-Militarisierung der deutschen und europäischen Sicherheitspolitik als quasi alternativlos dargestellt wird. Historisch-systematisch ist es auch deshalb erstaunlich, weil es kein Beispiel in der Geschichte der Menschheit gibt, bei dem militärische Mittel zu einem dauerhaften Frieden beigetragen hätten. Vielmehr gibt es unzählige Beispiele aufgeklärter Weltbürger*innen bis zurück in die griechische Antike, die die natürliche Gleichheit des Menschen unterstrichen und damit auch die Bedeutung des Friedens für das gemeinsame Leben der Menschheit im Blick haben. Die damit verbundene normative Positionierung hat selbstverständlich immer auch einen erneut mehr als zukunftsfähig gewählt. Genau genommen handelt es sich um ein altes Innovationsthema der Menschheit. Wer den Frieden will, kann gleich damit anfangen und sich der geistigen Unterstützung verschiedener Weltbürger*innen sicher sein. Dies mag idealistisch klingen, ist aber zugleich ein konstruktiv zu beschreitender Weg, der Ideologie des Krieges die „Militanz der Menschlichkeit“ entgegenzusetzen.
Hier kommt ein Verständnis des Friedens zum Tragen, wie es urchristlicher kaum formulierbar ist: Denn Frieden war schon immer mehr als die Abwesenheit von Krieg, wie der Papst erneut in seiner Enzyklika „Laudato Si“betont hat. Dort erinnert er uns auch in christlich-pazifistischem Sinne daran, dass Frieden nur durch die Liebe möglich ist. Und diese Nächstenliebe ist letztlich Feindesliebe oder zumindest die Liebe des unbekannt Anderen. Es ist eine gegenleistungsfreie Liebe, die von „universaler Geschwisterlichkeit“ ausgeht und eine „Kultur der Achtsamkeit“ betont. Dies ist ein klarer Handlungsauftrag, jetzt Alternativen zu erproben, um den Frieden in Nachhaltigkeit voranzubringen. Dieser Friedensauftrag steht nicht im luftleeren Raum. Im fortschreitenden 21. Jahrhundert wird immer deutlicher, dass die Zivilisation an ihre selbst geschaffenen Grenzen kommt. Die Herausforderungen für das Überleben der gesamten Menschheit sind immens. Die Welt befindet sich in intensiven Wandlungsprozessen, die anders verlaufen als zurückliegende Transformationen (v. a. Neolithikum und Industrialisierung).
Insofern macht es Sinn, über eine ‚Große Transformation‘ nachzudenken, die sich an den Leitlinien der globalen Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit orientiert. Der „Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen“ hat ausführliche Vorschläge zur „Welt im Wandel“ gemacht und plädiert für einen „Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation.“ In diesem Zusammenhang wird ausdrücklich auf das transformatorische Potenzial von Kultur hingewiesen, das weit über nationalstaatliche Engführungen hinausgeht. Neben der erwähnten Achtsamkeit aus ökologischer Verantwortung, müsste sich kultureller Wandel demnach um Teilhabe als demokratischer Verantwortung und Verpflichtung gegenüber zukünftigen Generationen als Zukunftsverantwortung bemühen. Dies erfordert eine Rückbesinnung auf ein Weltbürger*innentum im 21. Jahrhundert und umfasst ein klares Bekenntnis zur demokratischen Balance von Freiheit, Gleichheit und Souveränität als chancenreicher Handlungsgrundlage.
Und jetzt kommt unser Friedensauftrag ins Spiel: Für diese Kulturtransformation braucht es Pioniere des Wandels/change agents, die weltbürgerlich agieren. kontrafaktischen Charakter. Denn immerhin ist die Weltgeschichte auch eine Geschichte der Kriege. Insofern geschieht eine Beschäftigung mit dem großen Themenfeld stets in einer Spannung von Normativität und Deskription. Wer hat da mit welchem Interesse was erzählt? Möglicherweise gibt es viel mehr Geschichten der Gewaltfreiheit als wir bis heute wissen. Wer z. B. die Erinnerungen von Hildegard Goss-Mayr liest, weiß um die Kraft der Gewaltfreiheit auf allen denkbaren Ebenen und in sehr verschiedenen Kontexten des Globus. Den Erfolg der gewaltfreien Revolution in Ostdeutschland im November 1989 hatte noch wenige Monate zuvor kaum jemand für möglich gehalten. Die Erinnerung daran durch stetiges konstruktives Tun wachzuhalten, ist Aufgabe einer aktiven Demokratie. Stellen wir uns einmal vor, dass jeden Tag die Schlagzeilen in den Medien ein Narrativ des Friedens enthielten!
Der Ideologie des Krieges die ‚Militanz der Menschlichkeit‘ entgegensetzen
Insofern ist das Thema des pax christi-Kongresses „Gewaltfreie Zukunft? Gewaltfreiheit konkret!“ im Oktober 2019 erneut mehr als zukunftsfähig gewählt. Genau genommen handelt es sich um ein altes Innovationsthema der Menschheit. Wer den Frieden will, kann gleich damit anfangen und sich der geistigen Unterstützung verschiedener Weltbürger*innen sicher sein. Dies mag idealistisch klingen, ist aber zugleich ein konstruktiv zu beschreitender Weg, der Ideologie des Krieges die „Militanz der Menschlichkeit“ entgegenzusetzen. Hier kommt ein Verständnis des Friedens zum Tragen, wie es urchristlicher kaum formulierbar ist: Denn Frieden war schon immer mehr als die Abwesenheit von Krieg, wie der Papst erneut in seiner Enzyklika „Laudato Si“betont hat. Dort erinnert er uns auch in christlich-pazifistischem Sinne daran, dass Frieden nur durch die Liebe möglich ist. Und diese Nächstenliebe ist letztlich Feindesliebe oder zumindest die Liebe des unbekannt Anderen. Es ist eine gegenleistungsfreie Liebe, die von „universaler Geschwisterlichkeit“ ausgeht und eine „Kultur der Achtsamkeit“ betont. Dies ist ein klarer Handlungsauftrag, jetzt Alternativen zu erproben, um den Frieden in Nachhaltigkeit voranzubringen.
Bildung zur Weltbürger*in – ein Auftrag für den Frieden
Aus der modernen Neurobiologie ist bekannt, dass der Mensch sowohl aggressiv als auch kooperativ sein kann und dass dies keine Triebe sind, sondern Strategien des gemeinsamen (Über-)Lebens auf dem Planeten. Insofern können wir uns jede Sekunde unseres Lebens mit anderen entscheiden, ob wir auf Aggression oder Kooperation setzen. Ja wir können sogar im Anschluss an aggressives Verhalten kommunikativ „den Film zurückdrehen“ und um eine Wiederholung unter dem Vorzeichen der Vergebung und Barmherzigkeit bitten. Wenn die päpstlich geforderte „kulturelle Revolution“ vorangebracht werden soll, braucht es ein klares Bekenntnis zu einer gewaltfreien Kultur des Zusammenlebens und Achtung gegenüber jedweder Umwelt im globalen Süden und Norden. Für die Umsetzung des damit erhofften Transformationspotenzials für Gesellschaft in Gemeinschaft, müssen Übungsfelder auch durch Lernofferten im Bildungsbereich geschaffen werden. Damit assoziierte pädagogisch-didaktische Überlegungen werden in verschiedenen Querschnittskonzeptionen thematisiert, die eine starke Tradition im außerschulischen Bereich haben und immer mehr im schulischen Bereich ankommen. Dazu gehören Bildung für nachhaltige Entwicklung und Umweltbildung, Globales Lernen und Menschenrechtsbildung, Friedenspädagogik und Gewaltfreie Konfliktbearbeitung sowie Interkulturelle und differenzsensible Pädagogik.
Im Sinne des europäischen Verständnisses von Global Education mit einer Betonung der globalen Dimension lassen sich diese unter dem Oberbegriff Global Citizenship Education (GCED) zusammenfassen. Die historisch-systematische Traditionslinie ist im europäischen Kontext mit Namen wie Johann A. Comenius, Erasmus von Rotterdam oder Immanuel Kant verbunden. Außereuropäisch finden sich verschiedene Anregungen bei Reform- und Befreiungspädagog*innen aus dem globalen Süden wie z. B. Paulo Freire, Julius K. Nyerere oder Mohandas K. Gandhi. Im Kern geht es um vier normative Leitplanken mit konzeptionellen Schnittmengen: • Nachhaltigkeit als bewahrend-wertschätzende Intra-/Intergenerationalität von Mensch und (Um)Welt,
- Gewaltfreiheit als rahmender Auftrag einer Kultur des Friedens,
- Gerechtigkeit als glokale Gleichwürdigkeit im Sinne menschenrechtsbezogener Partizipation und Teilhabe,
- Partnerschaftlichkeit als kooperativer Umgang mit Anderen und Kultur(en).
Diese pragmatische Vision liegt auch den Nachhaltigkeitszielen/ Sustainable Development Goals zugrunde, auf die sich die Weltgemeinschaft 2015 verständigt hat. Damit wird verdeutlicht, dass weltbürgerliche Erziehung als GCED nur als Friedensprojekt zu haben ist; ein Auftrag, der v. a. auch von der UNESCO wahrgenommen wird.
Perspektiven und Fallstricke
Das klare Bekenntnis zu einer Kultur des Friedens als Auftrag zur Gewaltfreiheit, die Stärkung eines visionären Pazifismus durch aktive Gewaltfreiheit, die bewusste Durchbrechung der Spirale von Gewalt und Gegengewalt, der Ausbau der Sozialen Verteidigung auf Basis der Shanti Sena im In- und Ausland sowie umfassende Förderung eines vernetzten Ausbaus wertschätzender Kommunikation, Mediation und anderer gewaltfreier Methoden sind hier wichtige Wegmarken. Um dies möglich zu machen, ist GCED ein bedeutsames international anschlussfähiges Konzept. Bei aller Begeisterung für diesen konzeptionellen und als zukunftsfähig betrachteten Zugang, muss sich GCED ihrer potenziellen Fallstricke bewusst sein.
- Wenn weltbürgerlich argumentiert wird, besteht stets die Gefahr einer Re-Hegemonisierung im Sinne kultureller Gewalt. Immerhin ist die europäische Idee des Weltbürger*innentums stark in einer Aufklärung verwurzelt, in deren Rahmen Kolonialismus und Imperialismus möglich wurden. GCED ist dann zukunftsfähig, wenn die dazu notwendige globale Partnerschaft ernsthaft de-kolonialisierend auf Augenhöhe angegangen wird.
- Wenn der Anspruch von inter-nationalen Bürger*innen zu trans-nationalen Weltbürger*innen umgesetzt werden soll, braucht es Klarheit über das unterlegte Bürger*innen-Verständnis jenseits von Nationen und Staatsbürger*innenschaften. Status- und Identitätsfragen müssen zwischen Nation, Kontinent (z. B. Europa) und Welt neu justiert werden. Damit sind auch Emotionen, damit assoziierte Zugehörigkeitsfragen in einer Gemeinschaft mit anderen sowie praktische Partizipationsoptionen verbunden.
- GCED ist dann möglich, wenn – im Sinne des vierten Ziels der Sustainable Development Goals – ernsthafte Schritte unternommen werden, um allen Menschen auf dem Planeten nachhaltige Bildungsmöglichkeiten über die Lebensspanne zu verschaffen.
- Ein Plädoyer für Frieden, Gewaltfreiheit und andere normative Leitperspektiven muss sich der eigenen blinden Flecken bewusst sein. Dazu gehört ein aufrichtiges Bekenntnis zu den Möglichkeiten und Grenzen von Bildung und Lernen zwischen Vision und Realisierung, um vom Wissen zum Handeln kommen zu können.
- Pädagogische und didaktische Bemühungen in gesellschaftlichen Querschnittsfeldern sind stets mit der Gefahr eines moralinsauren Zeigefingers konfrontiert. Dieser kann durch die Beschränkung des Beutelsbacher Konsenses – Überwältigungsverbot, Kontroversitätsgebot und Lernendenorientierung – entschärft werden.
- Wenn GCED ernsthaft umgesetzt werden soll, braucht es dazu professionelle Kräfte, die als Global Teacher/Facilitator agieren. Diese müssten selbst ihre Position und Haltung zur Welt klären und zum Umgang mit den benannten Querschnittsherausforderungen im Sinne der Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit, Partnerschaftlichkeit und Gewaltfreiheit qualifiziert werden. Eine „resiliente Demokratie“ durch ein aufgeklärtes Weltbürger*innentum zu fördern, ist ein sehr konkreter Handlungsauftrag, der umfassende Chancen verdient. Die „resiliente Demokratie“ ist die vierte Säule im Konzept einer Zivilen Sicherheitspolitik „Sicherheit neu denken“ der Badischen Landeskirche. Im Kontext „resilienter Demokratie“ ist auch die Friedensbildung zu verorten. Im Rahmen des pax christi-Kongresses biete ich eine Arbeitsgruppe an, die den in Deutschland grundgesetzlich festgeschriebenen Friedensauftrag als Modellvorhaben für den Friedenskontinent Europa durchbuchstabieren wird. Dieser Frieden ist nur gewaltfrei zu haben.
Das schließt ein, die beschriebenen potenziellen Fallstricke stets mit zu bedenken und sich um diesen Frieden jede Sekunde unseres Lebens neu zu bemühen. Frieden ist in diesem Sinne alternativlos und schließt militärische Mittel und Wege aus. Für den Bildungsbereich bleibt eine Frage, die in Anlehnung an Kurt Tucholsky aus den 1930er Jahren lauten könnte: Was wäre, wenn wir eine Generation von Weltbürger*innen erzögen, die den Krieg endlich radikal ablehnen und Konflikte grundsätzlich gewaltfrei lösen?
Prof. Dr. Gregor Lang-Wojtasik ist Professor für Erziehungswissenschaft/Pädagogik der Differenz an der Pädagogischen Hochschule Weingarten und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats von pax christi.